GROSS WERDEN. ODER: WIE DIE INDUSTRIELLE REVOLUTION DAS LEBEN IN DER STADT VERÄNDERT


INHALT
Bis 1800 leben und arbeiten die meisten Menschen in Europa auf dem Land. 100 Jahre später hat sich das grund­legend geändert: Die meisten Menschen wohnen in der Stadt und arbeiten in der Industrie. Was hat den Wechsel ausgelöst? Welche Ideen haben die Städte modern gemacht? Und was hat das konkret für Hamburg bedeutet?




Mit recht ein­fachen Koggen dehnen Ham­burgs See­fahrer im Laufe des Hohen Mittel­alters ihr Handels­netz auf der Nord­see aus.


1299 erhält Hamburg das Recht, auf der Insel Neu­werk einen Turm als See­zeichen und als Vor­posten gegen See- und Strand­räuber zu errichten.


1241 ist Hamburg Mit­gründerin der Hanse.


1492 verändert sich die Welt­ordnung: Amerika wird entdeckt! Ab sofort ver­laufen die Schiffs­routen für Ham­burg günstiger.





1528 wird Ham­burg protestan­tisch. Und im Ver­gleich zu anderen Städten verläuft der Über­tritt recht fried­lich.


Auch wirtschaf­tlich ändert sich in dieser Zeit viel: In den sogenannten Manu­fakturen stellt nicht mehr ein einzelner Hand­werker ein bestimmtes Handels­gut her. Komplexere Produkte, wie Kutschen zum Beispiel, werden in mehreren Arbeits­schritten von eigens für diesen Vorgang ausgebildeten Hand­werkern erzeugt.





Da die eigent­liche Stadt­fläche nicht wächst, führt die intensive Bau­tätigkeit dazu, dass es eng wird: Frei­stehende Areale in der Stadt werden flächen­deckend über­baut. Das trifft besonders auf die Innen­höfe zu, die zuvor teil­weise noch land­wirtschaft­lich genutzt wurden.

Von 1616 bis 1625 werden zusätz­lich massive Wall­anlagen um die Stadt angelegt. Auch dadurch erlebt Ham­burg im Dreißig­jährigen Krieg – im Gegen­satz zu anderen Städten – weder große Zerstörungen noch einen wirtschaft­lichen Ein­bruch.


Aber nicht nur Kriege beein­flussen das Leben in der Stadt. Die Erfindung der Dampf­maschine ist genauso entscheidend.


Der Schotte James Watt beschließt 1764, die Dampf­maschine auf den Vor­arbeiten von Denis Papin zu verbessern.


Der Unter­nehmer Matthew Boulton baut mit James Watt ab 1775 Hochdruck-Dampf­maschinen, die Fabrik- und Bergwerk-Maschinen antreiben.


Die erste Eisen­bahn­linie der Welt in der Nähe von London führt von Wands­worth über Mitcham nach Croydon in der Graf­schaft Surrey.


Während in England Schienen verlegt, Brücken aus Eisen gebaut und Tunnel gegraben werden, ist Deutsch­land noch von der Land­wirtschaft geprägt.

Der Deutsche Zoll­verein soll der Klein­staaterei Deutsch­lands ein Ende machen. Er ist ein Zusammen­schluss von Staaten des Deutschen Bundes für den Bereich der Zoll- und Handels­politik. Der Zoll­ver­einigungs­vertrag wird 1833 unter­zeichnet und tritt 1834 in Kraft – nur Hamburg macht nicht mit.


Hamburg ist jetzt die größte Fach­werk­stadt in Deutsch­land. Und weil es auch die modernste Stadt sein möchte, soll eine Eisenbahn­strecke gebaut werden.


Hamburg 1835

Mit den Ver­messungs­arbeiten zur Planung einer Eisen­bahn­linie zwischen Ham­burg und Lübeck beginnt die beruf­liche Lauf­bahn des englischen Ingenieurs William Lind­ley in Ham­burg.



Unmittel­bar nach der Eröffnung der Strecke 1842 beginnen die Planungen zur Erweiterung der Linie nach Berlin, die schon 1846 fertig­gestellt wird. William Lindley ist auf Ingenieur­seite im wahrsten Sinne des Wortes Hamburgs (Verkehrs-)­Wegbereiter in das Industrie­zeitalter.


Eine von den Borsi­gwerken produzierte Dampf­lokomotive, die 1873 an die Berlin-Hamburger Eisen­bahn geliefert wird und zwischen beiden Städten pendelt.

Der Ham­mer­brook, ein öst­lich des Stadt­kerns ge­le­ge­nes, länd­li­ches und was­ser­rei­ches Marsch­land, eig­net sich nur zur Be­wei­dung.

Lindley erhält vom Ham­burger Senat den Auf­trag zur Planung einer Kanalisation. Auf Grund­lage seiner Erfahrungen, die er in London gesammelt hat, ent­wickelt er für Ham­burg den Plan einer Schwemm­kanalisation, in der Regen- und Haus­abwässer gemein­sam unter­irdisch abgeleitet werden.


Lindley ent­wickelt ein eigenes Profil für die unter­irdischen Ab­wasser­kanäle – die Siele –, das in Hamburg erst­mals zum Ein­satz kommt. Im Ver­gleich zum Londoner System erhöht er damit die Fließ­geschwin­dig­keit und gewähr­leistet so den Ab­fluss. Mit der Normierung der Rohr­größen spart Lindley außerdem Bau­zeit und -‍kosten.


Bereits im Früh­ling 1843 wird der erste Ab­schnitt des Siel­netzes in Betrieb genom­men. Drei Jahre später ist die Kanali­sation auf elf Kilo­meter angewachsen.

Die Trinkwasser­versorgung Ham­burgs erfolgt seit dem 15. Jahr­hundert durch privat oder genossen­schaft­lich be­triebene Anlagen, aller­dings nicht flächen­deckend.


Die Zer­störung eines Drittels des Stadt­gebietes – durch den Großen Brand 1842 – ermöglicht die Neu­planung der Wasser­ver­sorgung durch ver­gleichs­weise sauberes gereinig­tes Elb­wasser. Lindley über­zeugt den Senat, die Ver­sorgung in staat­liche Hand zu legen, um sicher­zu­stellen, dass auch die ärmere Bevölkerung Zugang zu ausreichend günstigem Trink­wasser erhält. 


 

Durch die Arbeit des britischen Sozial­reformers Edwin Chadwick erkennt Lindley die stadt­planerischen Chancen, die sich durch den Brand ergeben.


Im März 1843 erhält Lind­ley von Ham­burg den Auf­trag zur Planung einer zen­tra­len Wasser­ver­sor­gung.


Nach­dem Lindley 1842 den ersten Wieder­aufbau­plan erstellt hat, gestaltet der Hamburger Architekt Alexis de Chateau­neuf nach langen Diskussionen in der technischen Kommission das neue Gesicht der Stadt.





Der 65 Meter hohe Wasser­turm in Rothen­burgs­ort wird 1848 nach Plänen von William Lind­ley und Alexis de Chateau­neuf gebaut. Er ist das gebaute Herz der Ham­burger Stadt­wasser­kunst und zugleich Schorn­stein der Dampf­pumpen, Schutz­hütte der Trink­wasser­steig­leitungen und beliebter Aus­sichts­punkt.

Bis 1846 plant und baut Lindley auf dem Gras­brook eine hoch­wasser­gesicherte Gas­anstalt. 1870 ist das Gas­leitungs­netz bereits 240 Kilo­meter lang und versorgt 9.000 Laternen.

Am 5. April 1855 werden am Schweine­markt in einer neu gebau­ten Bade­anstalt Bade­wannen für Männer und Frauen in Einzel­kabinen bereit­gestellt.



Auf­grund der Neu­organisation des Ham­burger Bau­amtes gibt Lindley 1860 seine Stellung als Berater der Bau­deputation auf.



Der Ham‍burger Senator und spätere Bürger­meister Johannes Vers­mann setzt für die Hanse­stadt das Recht durch, ein Frei­hafen­gebiet fest­legen zu dürfen.


Der Bau­ingenieur Franz Andreas Meyer wird zum obersten Planer und Gestalter der Speicher­stadt, des künf­tigen Handels­zentrums des Frei­hafens.




Nach dem Ab­riss von 1.000 Häusern wird mit Hoch­druck die Speicher­stadt hoch­gezogen. Bereits nach fünf Jahren kann 1888 der erste Bau­abschnitt ein­geweiht werden.




Die früheren Bewohner des Speicherstadt-Geländes ziehen in die erweiterten Gänge­viertel oder die binnen weniger Jahre hoch­gezogenen Arbeiter­viertel in Barm­bek und Hammer­brook.

Die Gänge­viertel der Alt­stadt weichen im 20. Jahr­hundert dem Durch­bruch der Möncke­berg­straße und dem Kontor­haus­viertel. Das letzte große Gänge­viertel in der Neu­stadt wird nach dem Zweiten Welt­krieg für das Unilever-Hoch­haus abgerissen. Nur ein halb­seitiger Gang und wenige Einzel­gebäude sind bis heute erhalten.

Im Sommer 1892 ist es in Hamburg ungewöhn­lich warm. Anfang August schreibt Johannes Vers­mann in sein Tage­buch, dass er besorgt über die Möglich­keit eines Aus­bruchs der Cholera ist. Keine zwei Wochen später wird der erste erkrankte Arbeiter ins Kranken­haus ein­geliefert.

Die Cholera­epidemie von 1892 fordert 8.600 Tote. Der Grund: vor allem ungefiltertes Wasser. Anschließend wird der Bau einer Wasser­filtrations­anlage auf Kalte­hofe mit Hilfe von Soldaten um­gesetzt. Gleich­zeitig wird ein Betriebs­gebäude mit Laboren zur Kontrolle der Wasser­qualität errichtet. Die Pläne dazu lagen bereits lange vor. William Lind­ley hat den Bau einer solchen Anlage schon 1860 gefordert. Meyer hatte sie bereits Mitte der 1880er Jahre geplant. Die Hamburgische Bürger­schaft stoppte und verzögerte beide Male das Vor­haben.

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